Zwei Mitarbeiter der WAZ haben einen Großteil der Serie “Nacht über Wanne-Eickel” geschrieben: Brigitte Unterberg und Walter Niklas. Beide haben nicht nur mit etlichen Zeitzeugen gesprochen und deren Erlebnisse niedergeschrieben. Walter Niklas konnte bei der Rekonstruktion der Ereignisse oft auf sein privates Tagebuch zurückgreifen.
Brigitte Unterberg hat in die WAZ-Serie mehrfach sehr eindringlich über ihre eigenen Kindheitserlebnisse in dieser schrecklichen Jahren berichtet. Dies ist einer ihrer autobiografischen Texte:

 

Eine Kindheit unter Bomben

Tausende haben es am eigenen Leib erlebt wie ich, was es hieß, Kind im Krieg zu sein. Ich weiß es noch wie heute, dass uns unsere Nachbarin in Röhlinghausen wie irrsinnig „Leute, ist Krieg“ aus dem Fenster auf die Straße schmetterte, meine Mutter nach draußen lief und vor Schreck Tür und Fenster offen ließ. Denn wir besaßen keinen Radioapparat und bezogen die neuesten Meldungen aus der Nachbarschaft.

Da saßen wir also, zwei jüngere Brüder und ich, am Tisch und rückten vor unbestimmter Angst näher zusammen. Der Wind fuhr durchs Fenster herein und zur Tür hinaus; ein Päckchen Fotos, eben besehen, nun säuberlich aufgeschichtet, fegte er schonungslos vom Schrank. Anfang vom Chaos im Großen wie im Kleinen.

„Mami, komm wieder“, jammerten meine Brüder. „Nun, nun“, sagte ich, zwar selber zitternd, aber mütterlich – tröstend zugleich: „Los, wir futtern weiter!“ Ich habe mich später manchmal gefragt, ob ich wohl schon damals mit neun, zehn Jahren, empfand, dass uns die Zeit in jenen Tagen schneller zum Älterwerden trieb. Denn ich weiß jetzt, ich war – an den Pflichten gemessen – erwachsen, als ich noch ein Recht darauf hatte, Kind zu sein. Aber Krieg macht keinen Unterschied zwischen Groß und Klein.

 

”Der Mann” belauscht neuerdings
unter dem Fenster unsere Gespräche

Nun lag ich in einem etwas muffigen Bett aus Urgroßmutters Tagen (weiß der Himmel, wie sie das durch die Tür gezwängt haben) im tiefen Keller. Rechts von mir greifbar die Kohlen, links einen Bruder oder sonst wen aus der Nachbarschaft. Wir waren durch ein kleines, selbstgeschlagenes Loch in der Kellerwand mit den anderen zusammengekrochen. Ich glaube, es gab damals kaum ein Haus in der Pluto-Zechenkolonie, das nicht diese bauliche Veränderung aufzuweisen hatte. Wir fürchteten uns, und geteilt durch viele ging das leichter.

Anfangs erzählten sie sich Klatsch, Räuberpistolen, vorwiegend heiter, als wollten sie sich täuschen, warum sie da unten zusammenkamen. Der Vorrat war bald erschöpft, und der Krieg hatte den viel, viel längeren Atem. Dann versuchten sie es mit politischen Witzen, aber da stand eine Frau empört auf, und fortan wagte niemand mehr, etwas zu sagen. Und eines Tages impften sie uns mit einem neuen Grauen: Vorsicht vor dem da! Einer schleicht um das Haus! Der Mann, der unser Alptraum werden sollte.

Vater wurde Soldat. Mutter plagte sich redlich mit uns dreien. Aber manchmal, wenn der Alarm vorüber war, konnten wir trotzdem noch lachen. „Kinder, was wart ihr widerspenstig heute Nacht“. Arme Mama. Sie zog bei Voralarm eilig den ersten an. Ich half mir schon selber. Noch während sie den zweiten fertig machte, zog sich der erste wieder aus und kroch zurück ins Bett. „Herrgott“, schrie die Mutter, „wo ist der Junge?“ Und dann, als sie ihn fand: „Los, marsch, in den Keller, die Strümpfe ziehen wir dann unten an!“ „Ist gut“, sagte ich und fing an, mir die Strümpfe auch wieder auszuziehen. „Aber du hast doch gesagt, im Keller...“ jammerte meine Stimme in einem schlaftrunkenen Kopf nach einem unsanften aber notwendigen Rippenstoß. Wachs` schneller, Mädchen.

Bald durfte ich die Tasche mit den Sparkassenbüchern tragen. Wir bildeten uns ein, damit ein Vermögen zu retten. Und für einen Bergmann, der es hart erarbeitet hat, war es das ja auch. Wer Geld trägt, trägt Verantwortung. Ich, als das älteste von drei Kindern in einem Haushalt, in dem mit jedem Pfennig gerechnet wurde, ein relativ verständiges Kind, lud sie mir auf die elfjährigen Schultern.

Ach, wir waren trotzdem noch herrlich ausgelassen. Und in der Handarbeitsstunde wurde mein neuer Pullover fertig, und ich hatte ihn der großen Spendenaktion abgetrotzt, und ich freute mich so. Zu Hause bekam ich einen Dämpfer auf meinen Übermut. Die Mutter hatte verweinte Augen. „Der Mann“ war da! Wir sagten schon nur noch „der Mann“, wenn wir den meinten, der neuerdings unter dem Fenster unsere Gespräche belauschte.

Er stand mit großen, strengen Augen in unserer Stube und wollte eine Spende haben. Aber wir hatten kein Geld. Wir rechneten doch mit jedem Groschen. „Weißt du was“, sagte meine Mutter, „geh, lauf, bring deinen Pullover fürs WHW, dann haben wir Ruhe.“

Schluß! Aus! Vier Wochen Arbeit vertan. Ich war geknickt, aber brav. Eine gehorsame Tochter, die langsam ahnte.

Dann wurden die Nährmittel knapp. Es sprach sich bei uns herum, dass ein Geschäft an der Gelsenkirchener Straße noch Reis in Mengen habe. Nichts wie hin, hin... „Wozu braucht ihr zehn Pfund Reis?“ fragte die Verkäuferin misstrauisch. „Wir sind sechs Kinder“, log ich voll Not, obwohl ich wahrhaftig keine Übung darin hatte. Und vor mir selbst rechtfertigte ich mich, wie sie es mir alle eingetrichtert hatten: Die Küken müssen auch fressen. Wir hatten es geschafft. Und die Küken auch. Noch zwei Jahre danach labten wir uns gelegentlich an kräftiger Hühnersuppe, die wir der Rationierung unterschlagen hatten.

 

Das Blut des englischen Piloten klebt an der Schulhofmauer

Nachdem das am 7. September 1941 über Wanne-Eickel abgeschossene Flugzeug an der Bochumer Straße in Höhe der Barbarastraße herunterkam, haben wir Kinder der Görresschule das Blut eines der englischen Flieger an der Schulhofmauer und auf dem Bürgersteig gesehen! Einen Augenblick standen wir starr. Dann reckte sich einer von den Pimpfen betont forsch und schnarrte: „Toll, wie sie den runtergeholt haben.“ Da geschah es. Ich sah, wie die Faust bei Karl, unserem Allerweltskerl, langsam aus der Hosentasche kam. Dann schlenderte er an dem Pimpf vorbei, stolperte kunstgerecht und stieß ihn brutal in die blutige Lache.

„Paß doch auf“, rief derPimpf, „nun muss ich mich wahrhaftig noch waschen“. Und rieb sich sorgfältig die Flecken ab. Ich wollte ihn dafür hassen. Und vergaß es nach Art der Kinder doch bald. Das Erlebnis aber blieb so furchtbar, dass ich später manches Widerwärtige im Leben daran gemessen milde fand. Und wieder war ich entsetzlich viel älter, als mir den Jahren nach zustand.

Eine aus unserem Haus hatte den Bomber wie eine Fackel stürzen sehen, brach mit einem Schreikrampf zusammen und redete seitdem mit fanatischer Hartnäckigkeit Abend für Abend davon. Da hielten wir es nicht länger aus. Wir suchten einen neuen Unterschlupf. Bis zum Bunker an der Westfalenstraße schien es uns noch zu weit. Aber was wir dann fanden, war doch noch weit schlimmer.

 

Sie stopfen eine Schlange Menschen in den Abwässerkanal

Eine Handvoll Männer hob Auf der Wilbe den Deckel von einem Abwässerkanal. Ein gähnendes schwarzes Loch, in dem die Lichtkugel einer Taschenlampe irrte. Aber sie stopften eine Schlange Menschen hinein. Einer nach dem anderen, Stiege für Stiege, schweigend und hastig. Uns Kindern saß das Grauen im Nacken. Ich dachte, ich würde schreien. Doch ich angelte schon mit den Füßen die Sprossen. Der Trott ist doch leichter als Weigerungen, die nichts fruchten. Als wir unten saßen, waren wir froh, einen Bahndamm über dem Kopf zu haben, den, so hofften wir, eine Bombe nicht gänzlich durchbohren konnte.

„Aber es stinkt hier, Mama ...“ – „Das musst du ertragen!“ – „Aber es ist auch so dunkel....“ – „Besser als die Scheinwerfer der Flak!“ – „Und der Schlamm … und die …“ – „Setz dich aufs Rohr und rede nicht weiter“. Unfassbar dieser Gleichmut. Die Strenge in einer so unglücklichen Lage? Da kennen Sie meine Mutter schlecht! Ich habe zum Beispiel gar nicht erwähnt, dass sie eines nachts ganz allein die Stabbrandbomben, die unser Schlafzimmer schon angesteckt hatten, rausgeschmissen hat. So selbstverständlich fand sie das. Gewohnheit stumpft ab, selbst im Krieg.

Später wurde der Abwässerkanal ausgebaut und auch ein Notausgang geschaffen. Uns hätte eine einzige Bombe im Schacht wie eine Maus in ihrem Loch ausräuchern können.“ Ich las später Graham Greenes „Der dritte Mann“ und sah Orson Welles in der Filmtitelrolle in den Schächten der Wiener Innenstadt untertauchen. Kann mich nicht erregen!“ Alles schon gehabt. Mitten in unserer Stadt.

 

Fremde Männer singen ihre Heimatlieder im Gefangenenlager

„Der Mann“, der uns beargwöhnte, weil wir als nicht ganz zuverlässig galten, war Bestandteil unserer großen Angst. Er hat denn wohl auch, mehr als ich weiß, meinen Eltern zu schaffen gemacht. Es war hier nicht besser als anderswo. Überall lagen sie auf der Lauer. Und dennoch: Wahrscheinlich hatten wir es ihm sogar zu verdanken, dass wir rechtzeitig vorsichtig geworden waren. Dem einen und anderen ging das vielleicht ebenso. Ich bin längst versöhnt. Ich kann sogar mit stillem Lächeln daran denken, was ihm alles trotz seiner Aufmerksamkeit entgangen ist.

Das von den Brotmarken zum Beispiel wusste er nicht. Wir waren derweil in die Südschule verpflanzt, weil sie die Görresschule für die Gefangenen brauchten. Manchmal hörten wir die fremden Männer Heimatlieder singen. Ich war nicht die einzige, die gelegentlich vor dem Stacheldraht herumstrich. Einmal flehte uns einer an: „Brot!“ Ich sagte das meiner Mutter und bekam eine Brotmarke, die ich ganz unauffällig hinlegen sollte, obwohl, wenn man’s richtig bedachte, das ja wohl sinnlos war. Ich aber legte mein Herz darein, zerknitterte das Papier in der verschwitzten Hand, rannte so oft hin und her, dass das jedem verdächtig werden musste, schmiss schließlich das Stückchen Hoffnung durch den Zaun und rannte wie besessen davon. Ich weiß nicht, ob überhaupt je einer die Marke gefunden hat.

 

Mit Sammelbüchsen klappern

Ja, mit dem Tage, da wir in die Südschule übersiedelten, ist hinter uns eine Tür zugeschlagen. Es war der Zeitpunkt, als sie begannen, aus jeder Stunde des Tages zwei zu machen. Wer rastet, rostet. Die freien Nachmittage der Kinder wurden mit Sprüchen eingefangen. Altmaterial sammeln, ferner Ackerschachtelhalm, Kamille, Huflattich, Sauerampfer – hach, Tee und Gemüse für die halbe Stadt wächst an einem einzigen Bahndamm, wer will das verkommen lassen? Hurtig, hurtig, Kinder!

Wir haben zuerst inbrünstig daran geglaubt und alle Halden samt Wegrainen nach guten Werken abgegrast. Erst als wir sahen, dass die Weiterverwertung nicht halb so gut organisiert war wie unser Feuereifer, dass unsere Lehrer ergeben die Berge verfaulten Grünzeugs vom Schulhausboden wälzten, wurden wir missmutig und verdrossen.

Dann kamen die Tage, an denen sie uns lehrten, mit den Sammelbüchsen zu klappern. Nur den Pfiff, den jene Mädchen wie die blonde Emmi aus unserer Klasse besaßen, um am anderen Tag die Büchse rappelvoll aufs Pult zu knallen, konnte mir niemand verraten. Ich habe sie glühend beneidet, die Emmi. Ein bisschen Schneid gehörte wohl dazu und eine gute Portion Selbstbewusstsein. Das aber waren Tugenden, die ich nicht besaß. Und während ich dieses einmal nach einem mehr als kümmerlichen Klapper-Ergebnis unter Tränen meiner Lehrerin gestand, erbot ich mich, für die gerade anlaufende Aktion „Quadrate stricken“ das Doppelte und Dreifache zu machen. Wir bekamen das Maß, nachdem wir aus Wollresten viereckige Lappen fertigten, die, zusammengefasst, Decken für unsere Soldaten im Russlandfeldzug ergaben. Das tat ich gern. Umso lieber, als man dabei träumen konnte.

Kartoffelkäfer fanden immer die anderen, ich nie. Ich sehe noch den Bauern vor mir, wie er, am Feldrand stehend, mit senkrechter Falte zwischen den Augenbrauen, über die schulpflichtigen Krabbler sah, die seine gepflügte Erde platt traten und jedes Blatt nach dem gesuchten Schädling abfingerten, ich fürchte, ich weiß, wen er als das kleinere Übel ansah.

Inzwischen hatten wir schon so etwas wie einen Stammplatz im Bunker. Es war uns jetzt nicht mehr zu weit. Wir hatten, was wir damals nicht wussten, noch Jahre wachsenden Infernos vor uns. Es gab die hässlichsten Bunkergeschichten, hier dort, überall so gut wie bei uns. Grässlich vor allem, weil alles nackte Tatsachen waren.

Jedoch, so dicht auch das Getümmel, es war noch immer Platz für kleine Heldentaten. Da zählte bisweilen nicht einmal die Nationalität, sondern nur Menschlichkeit. Tröstliche Geschichten.

 

 

 

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