NZZ Folio: Wanne-Eickel (1997)

 

Auf Crange

Vier Millionen Leute sollen sich in den zehn Tagen der Cranger Kirmes auf dem Festgelände am Kanal von Wanne-Eickel tummeln. Drei davon waren wir.

 Von Lilli Binzegger

 

Über den Kanal donnern zehn Böllerschüsse, im Festzelt sticht der Bürgermeister das Fass mit dem Bier an, das mit 3 Mark 90 für den Drittelliter incl. Glas Gott sei Dank dieses Jahr nicht teurer geworden ist. Mit dem Schlachtruf „Piel op no Crange!“, von dem garantiert keiner mehr weiss, was es heisst, eröffnet er punkt 11 Uhr an diesem 1. August die 562. Cranger Kirmes, das größte Volksfest im Ruhrgebiet und eines der größten ganz Deutschlands. Gleich werden uns - humba, humba - die Bässe der Bayernkapelle, die aus dem Lautsprechergebirge dröhnen, das Hirn aus dem Kopf und die Eingeweide aus dem Leib blasen. Wir sitzen nämlich direkt davor.

Obwohl geographisch wie historisch tief im Kohlenpott verankert, wird die Cranger Kirmes, „die schönste Kirmes im Ruhrgebiet“, nach bayrischem Ritus eröffnet, im 4.000-plätzigen blau-weißen Bierzelt, dem „schönsten, größten doppelstöckigen transportablen Bayernzelt“. Es steht im Ortsteil Wanne des Herner Stadtteils Wanne-Eickel auf dem über 80.000 Quadratmeter großen Festgelände in einer längst zum Rhein-Herne-Kanal gestreckten einstigen Flussschleife (Crange!). In dieser haben sich in ferner Zeit die kleinen, stämmigen Wildpferde getummelt, die Emscherbrücher Dickköppe, die auf jenem Markt verkauft wurden, aus dem später die Kirmes hervorgegangen ist.
In diesem Zelt wird es während der Kirmes eine Menge Veranstaltungen geben, einen Seniorentag etwa („Kölnischwasser-Invasion“ hat jemand Respektloser den genannt, und manchmal würden die alten Damen dort einander die Handtäschchen um den Kopf hauen) oder die von den Youngsters ersehnten Auftritte zweier Bands, von denen die eine wie die Kelly Family und die andere wie DJ Bobo spielt.

Vier Millionen Besucher werden für die nächsten zehn Tage erwartet. Drei von ihnen, nämlich wir, haben nach Abschluss des Eröffnungszeremoniells mit dem Auftritt der Schlagersängerin Mary Roos als Höhepunkt (der einzigen Deutschen, die jemals Gast in der Muppet Show war!) soeben eine bayrische Mahlzeit zu uns genommen und wollen nun einen von uns auf die Achterbahn setzen, um zu sehen, ob er auf der Fahrt den Leberkäs und das Bier bei sich behalten kann. Er steigt zwar etwas blass um die Nase und ziemlich nass von der Bahn, die ihn 30 Meter hinaufbrachte und von dort in einem Affenzahn hinabstürzen ließ und durch drei Loopings und weiß der Himmel wo überall hingeschleudert hat. Aber die Nässe kommt vom Regen, der bis zum Abend dieses ersten Kirmestages nicht mehr wirklich aufhören, das Feuerwerk nach dem Eindunkeln um halb 11 Uhr über dem Kanal aber zum Glück unbehelligt lassen wird. Ein zweites Feuerwerk wird in zehn Tagen die Kirmes beenden.

Ein Fahrgeschäft nennt sich diese Achterbahn. Wir haben uns überhaupt erst einmal in die uns fremde Terminologie der Cranger Kirmes (Kirmes = Kirchweih) einhören müssen. So geht man auf Crange, nicht etwa zur Kirmes. (Und zwar geht man wirklich: Man legt die Ferien so, dass man zu Festbeginn wieder zu Hause ist.) Und auf der Kirmes spielt man, egal, ob man Zuckerwatte verkauft oder eine Achterbahn betreibt. Ein Kettenkarussell zum Beispiel ist ein Rundfahrgeschäft, und jene Wahnsinnsmaschinen, wo Bluthochdruck, Rückenschäden und Schwangerschaft kontraindiziert sind und auf denen sich die Leute für 10 Mark die Seele aus dem Leib schreien, sind Hochfahrgeschäfte.

Ein Fahrgeschäft ist auch der „Picture Shuttle“, von dessen Anpreisungen wir uns haben verführen lassen (Se biggest show of se world!) und der uns in einem Wägelchen durch einen finsteren Tunnel fährt, wo in 3D Dinge wie Eier, zähnefletschende Hunde und Büstenhalter auf einen zugeflogen kommen, letztere geworfen von einer prallen Blondine, eben halt lauter total lustige Sachen. Und das, worin wir uns eben jetzt befinden, ist ganz klar ein Laufgeschäft. „Inferno“. „Deutschlands größtes Action-Simulations-Center.“ „Sie erleben: Erdbeben, Höhleneinbruch, Fahrstuhlabsturz in perfekter Simulanz.“ Zum Selberlaufen. DM 4, Kinder DM 3.
Ich für meinen Teil bin gottenfroh, dass nur die Höhle wirklich einbricht und zum Beispiel beim Fahrstuhlabsturz die Rolltapete, die an uns vorübersausen sollte, irgendwie klemmt, so dass wir statt der versprochenen 300 nur knapp einen halben Meter tief fallen, was man mit ein wenig Glück überlebt.

Über 2.000 Schausteller haben sich mit ihren Fahrgeschäften, Buden, Biergärten und so fort für die Cranger Kirmes beworben; denn spielt das Wetter mit, ist sie eine einträgliche Station auf ihrer Jahrestournee. 500 wurden aus den Bewerbungen ausgewählt. Wichtigste, wenn nicht überhaupt einzige Kriterien sind der Neuheitswert und die Attraktivität. Da es an Neuem nicht jährlich beliebig viel geben kann, auch wenn die Hersteller der High-Tech-Anlagen nicht müde werden, immer noch fürchterlichere Gruselmaschinen zu entwickeln, sieht das meiste auf der Cranger Kirmes ganz einfach hübsch aus. Da gibt es altmodische Kettenkarussells, kleine Schiffchenschaukeln, Kütschchen mit leibhaftigen Pferdchen davor, ein Kinderriesenrädchen aus Holz, so dass man neben den vor Lust an der Angst kreischenden Teenagern überall auch glücklich quiekende Babies antrifft.

Die mit Ess- und Trinkwaren- und Kinkerlitzchenständen gesäumten Strassen sind ein Fest aus Pastell, kein Stand, der nicht liebevoll mit nostalgischen Motiven ausgeschmückt wäre. Diese Beschränkung aufs Äußerliche kann allerdings auch einmal dazu führen, dass einen zwischen zwei Wolken süßen warmen Mandeldufts („Hübners zahnfreundliche Zuckermandeln“!) eine aus einer Pommesbude erfasst, in der noch nostalgischer als der Stand das Öl in der Friteuse ist.

Nach der Wende tauchten Schausteller aus dem Osten hier auf, mit völlig veralteten Dingern, hölzernen Riesenrädern und dergleichen. Das fand man vielleicht eine Kirmes lang gut, dann hatte man sich daran satt gesehen. Für die Hochfahrgeschäfte und die Tempobahnen war High-Tech gefragt, nicht Nostalgie. Unterdessen haben die Schausteller der neuen Länder aufgeholt und mischen mit im großen Geschäft. Auch dann und wann eine Schaustellerin. Frau Schleinitz aus Thüringen etwa hat sich mit ihrer Losbude, dem „Cesar's Palace“, von der Dorstener Strasse unten in Wanne hier auf den Hauptplatz vorgearbeitet. Ihre Bude mit den Türmen von Plüschtieren ist prächtig, und im Rekommandieren (im Lose-Anpreisen) schlage sie, heißt es, jeden Mann.

Die Kirmesfrauen ergäben überhaupt eine Geschichte für sich. Nicht dass viele von ihnen ein eigenes Geschäft hätten, aber sie schmeißen oft hinter den Kulissen den Laden, verkaufen Billette, kochen für die Arbeiter, deren Zahl bei den großen Geschäften leicht in die Dutzende gehen kann, und ziehen nebenher noch ein paar Kinder groß. Die Schaustellerkinder sind heute, sobald sie schulreif sind, allerdings meist nur noch in den Ferien bei ihren Eltern auf der Kirmes, da sie in der Regel eine Internatsschule besuchen. Früher hatte man sie tageweise dort unterrichten lassen, wo man eben gerade war. Ralph Sandrock, ein Enkel der Adele, der auf der Cranger Kirmes eine Losbude betreibt, kann einem noch das Buch zeigen, in dem er seine Schultage, einzeln, hatte eintragen lassen müssen.

Zweierlei sei schlecht für die Cranger Kirmes: Dauerregen und Dauerhitze. Ist es nämlich zu heiß, gehen die Kids tagsüber lieber am Kanal baden und kommen erst abends her. Und die Erwachsenen trinken, sagt man, wenn's zu heiß ist, nicht schön Bier, sondern halten sich eher an Alkoholfreies, was nur halb so lustig ist, weshalb sie es nur halb so gern tun. Dabei gäbe es Biergärten zuhauf, „Steinmeisters“ etwa, wo sich Wanne-Eickels Jeunesse doree trifft und wo sich ganze Abitur-Jahrgänge verabreden, so wie es überhaupt Vereine, Clubs und Stammtische gibt, die Spargemeinschaften für die Kirmes bilden und Anfang August dann jeweils auf den Putz hauen. „Steinmeisters“ hat Platz für weit über 2.000 Leute, 3 Kilometer Bierleitung, 14 Zapfstellen, 1 Hund.

Von Dauerhitze kann im Augenblick nicht die Rede sein, nicht einmal von temporärer. Wir haben die Regenpause für einen Bummel durch die Budenstadt genutzt, haben lange gezögert, ob wir unseren Lieben nun Gummibärchenschnaps (Gummibärchenschnaps!) mitbringen sollen oder doch lieber ein schönes Bild, Kategorie röhrender Hirsch. Wir haben mitgelitten mit dem Großvater, der eine besonders missmutige Göre (null Bock auf Kirmes!) hinter sich herzog, und mit jenem Knirps, der mit zehn Ballschüssen sechsmal in ein von Snoopy bewachtes Tor traf und die Wahl zwischen einem Miniaturskelett und einem Miniaturfußball als Preis hatte und sich die ganze Zeit, die wir dort standen, nicht entscheiden konnte, und das war lang. Wir haben eine Bratwurst nach Thüringer Art („1/2 Meter, Im Baguette“) gegessen (fetttriefend und köstlich!). Wir haben uns die Ohren gefüllt mit dem charakteristischen Kirmes-Sound, in dem sich Disco und Techno und Oldies und Leierkastenklänge und das Geheul der Monstermaschinen und das Gerufe der Losverkäufer vermischen und in dem das eine das andere, obwohl alles laut, jeweils noch etwas übertönt, je nachdem, wo man gerade steht.

Und jetzt haben wir uns aufs Riesenrad geflüchtet, das wenigstens gedeckte Kabinen hat. Aus diversen Gründen könnten wir allmählich am ehesten einen Schnaps vertragen. Das Rad trägt uns langsam in die Höhe. Unter uns breitet sich das uferlose Siedlungsgebiet des Ruhrgebiets aus. Und alles versinkt im Regen. Die Achterbahnen und die Losbuden. Se biggest show of se world. Die Shuttle-Busse, die die Stadt zwischen der Kirmes und den umliegenden Bahnhöfen verkehren lässt. Die Kühltürme der Kraftwerke. Die Zeche Unser Fritz. Der Kanal. Ganz Wanne-Eickel.

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